Wider die Sinn Diktatur. Eine Polemik.

Sinn. Purpose. Mission. Übergeordneter Zweck. Das sind seit längerer Zeit die neuen Zauberwörter für erfolgreiche Unternehmen. Stellvertretend für viele formuliert es Stefan Hagen so: „Führung muss in der Lage sein, diesen Zweck als attraktive Geschichte zu erzählen, um so Anhänger (= Kunden, Mitarbeiter, Partner, ...) für die zentrale Idee des Unternehmens zu gewinnen.“

Führung MUSS also mal wieder. Wie bei allen großen Ideen oder Konzepten der letzten Jahrzehnte muss Führung mal wieder. Und natürlich müssen auch die anderen, mindestens mal die Mitarbeiter. Überzeugt sein, aligned oder committed, wie man so schön sagt. Überzeugt sein von der „zentralen Idee“ des Unternehmens, sei es als Pförtner oder Vorstand. Sie müssen. Nur dann sind sie offenbar beseelt vom Sinn und leisten, was sie leisten. Und natürlich muss der Zweck als „attraktive Geschichte“ daher kommen und muss „erzählt“ werden. Klar, Storytelling ist ja auch ein so ein Konzept, ohne das erfolgreiche Unternehmen heute nicht mehr denkbar sind.

Entschuldigung, aber geht es nicht eine Nummer kleiner? MUSS das wirklich? Können wir nicht auch damit leben, dass es Menschen gibt, die vielleicht einfach nur ganz gern ihren Job machen, ohne gleich von einem Sinn überzeugt zu sein, vor allem von einem, den ein Unternehmen vorgibt? Menschen, die einfach nur ordentlich die eigene Arbeit machen wollen, ohne darin gleich aufgehen zu müssen und darin immer auch einen Sinn zu erkennen? Und vor allem den Sinn, den sich jemand anderer, meistens mit Hilfe von Beratern und Agenturen, für ihn ausgedacht hat? Wie weit geht eigentlich die Vereinnahmung der Führungskräfte und Mitarbeiter in einem Unternehmen noch? Vollständige Identifikation, darunter machen wir es nicht, oder?

Ich möchte betonen: Es kann gut sein, dass Führungskräfte und Mitarbeiter einen Sinn für sich erkennen, einen solchen zu stiften imstande sind und eine Sinnkopplung mit dem Unternehmen eingehen. Und es ist ja auch nicht gleich das Gegenteil von „purpose-driven“ (nämlich „vollkommen sinnlos“) ein erstrebenswerter Zustand. Und in unseren postmodernen Zeiten, geprägt vom Fachkräftemangel, werden Unternehmen immer weniger Menschen anziehen können, wenn sie als einziges Angebot für Mitarbeiter ein regelmäßiges Gehalt offerieren. Aber bevor wir deshalb sinnloserweise Sinn – am besten in einem Top-Down-Purose-Prozess – überstülpen, sind noch ein paar zögerliche Einwände erlaubt:

Ein Unternehmen –  je größer, je wahrscheinlicher – ist letztlich eine  Art „Plattform“ für beliebig viele Subsysteme mit einem jeweils eigenen Sinn bzw. einer Pluralität von Sinnangeboten. Das können wir empirisch in der Realität beobachten, wenn wir die faktische Vielfalt von Kontextgemeinschaften zu Kenntnis nehmen. Diese bilden sich im Laufe der Entwicklung und Ausdifferenzierung von Unternehmen heraus. DEN einzigen, ein komplexes System integrierenden Sinn, der mag zufällig im Einzelfall sogar existieren – das ist aber ab einer gewissen Systemreife eher unwahrscheinlich. Ihn dann über Leitbilder oder Mission Statements künstlich zu postulieren und dann auch noch als „Story zu verkaufen“ ist: künstlich. Da ist mir das tolerante Nebeneinander und das produktive Reiben unterschiedlicher Sinnangebote in diversen Kontextgemeinschaften viel lieber – auch wenn sich das nicht gefällig in Hochglanzbroschüren und von Kommunikationsagenturen als „Story“ glatt geschliffen lesen lässt.

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